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Gastbeitrag: Die DNA der Lilien – Teil 3

DNA

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Woher kommen wir und wer sind wir eigentlich – als Verein, als Fans oder Mitglieder des SV Darmstadt 98?Im dritten Teil ihres Gastbeitrags über die DNA der Lilien behandeln die Archivare und Vereinsschreiber, Jürgen Koch und Thomas Spengler, unter anderem ein Thema, das den Verein bis heute intensiv beschäftigt: das Stadion. Daneben zeigen sie auf, wie tief Solidarität, Weltoffenheit und eine kontroverse Diskussionskultur im Verein verwurzelt sind:

Wie der junge Verein zum Stadion kam

Waren Fußballspiele vor dem Ersten Weltkrieg in einigen Städten schon populär und zogen viele Zuschauer an, explodierte die Popularitätsentwicklung ab 1919 gewaltig. Die Demokratisierung ohne innere Grenzen und die immer besser werdende Organisation durch den DFB verstärkten das Interesse. Der DFB war in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts der stärkste Verband, der Meisterschaften und Pokale ausspielte. Daneben gab es aber auch Arbeitermeisterschaften und andere begrenzte Meisterschaften, wie die der jüdischen Vereine. Der SV Darmstadt 98 hatte immer noch kein eigenes Stadion.

Die Stadt Darmstadt bot dem Verein dann (gemeinsam mit dem Schwimmclub Jung-Deutschland, heute DSW 1912) einen Teil des Geländes des TEC (Tennis- und Eis Club) unterhalb der Tennisplätze zum Kauf an, um dem zu diesem Zeitpunkt finanziell schwer angeschlagenen TEC aus der Klemme zu helfen. Dafür musste der Verein ein wettbewerbsfähiges Stadion erstellen. Man kam in Gesprächen mit der Stadt zur einmaligen Lösung, dass der Verein nur regional ansässige Unternehmen berücksichtigen würde und bei allen Baumaßnahmen auf die vielen arbeitslosen Bürger der Stadt zurückgreifen sollte. Dafür half die Stadt mit Geldern aus der produktiven Erwerbslosenhilfe (Arbeitslosengeld im heutigen Sinne gab es erst mehrere Jahre später).

Keine Standesunterschiede auf den Rängen

Das Stadion wurde so konzipiert, dass der Verein die städtische Unterstützung damit zurückzahlte, dass er immer darauf achten wolle, jedem Bürger der Stadt den Eintritt zu ermöglichen. Wie in seinen Ursprüngen, in der Geburtsstunde also, sollten alle gleich behandelt werden (keine Standesunterschiede), das Bürgerlich-Verbindende musste im Vordergrund stehen. So erklärt sich, nicht nur aus finanziellen Gründen, der architektonische Aufbau: eine kleine Tribüne für Rentner und Versehrte (es ging um Kriegsversehrte, Behinderte im heutigen Sinne kannte man weder von der Bezeichnung noch von sozialer Anerkennung und Würdigung), ansonsten hügelähnliche Aufschüttungen ohne Abgrenzungen und anderer Einteilungen oder Aufenthaltsgebote für Stehplatzbesucher.

So sollte eine Einheit hinter Verein, aber auch der Stadt hergestellt werden. Arbeiter neben Beamten, Professoren neben Hilfsarbeitern, Erwerbslose neben Akademikern, Deutsche neben Ausländern, Christen neben Juden. Multikulturell wie schon am Schloßgartenplatz. Genau diesem Prinzip folgte der spätere Um- und Ausbau des Stadions in den 50er und 70er Jahren. Die bis vor kurzer Zeit noch immens hohe Zahl an Stehplätzen (zu gleichen Preisen) machte den Flair des alten Stadions am Böllenfalltor aus und solidarisierte Fans, Zuschauer und Mitglieder in besonderem Maße wie zuletzt während der Insolvenzzeit (2008/09).

Diese solidarische Gleichheit führte aber auch schon ab 1921 zu einer im positiven Sinne positiven Streit- und Diskussionskultur im Verein. Die Plattform waren vor allem die Vereinsmitteilungen für Mitglieder, die mindestens monatlich erschienen und in denen zum Teil sehr kontrovers diskutiert wurde. Hinzu kam ein reges Vereinsleben auf dem Sportplatz oder in der Vereinsgaststätte.

Kämpfer – weltoffen und solidarisch

Was können wir nun also als die DNA des SV Darmstadt 98 definieren? Wir sind von Geburt an multikulturell und weltoffen, wir sind nicht nur Fußball, wir leben unseren Verein in enger symbiotischer Beziehung zur Stadt Darmstadt und seinem Umfeld, sind sozial und solidarisch, kennen im Verein keine Standesunterschiede und wir achten einander. Die 98er und die, die es mit ihnen halten, waren schon immer Kämpfer. So wie die viel zu früh verstorbene Alice, die unter anderem gegen die Folgen von Armut in der Darmstädter Altstadt und für Volksgesundheit kämpfte, und so wie die unter den Folgen zweier Weltkriege leidende Darmstädter Bevölkerung.

Auch sportlich haben die 98er immer gekämpft. Dabei war es stets unerheblich, ob man das Spiel eher defensiv (wie in letzter Zeit), offensiv (wie in den Gründungsjahren) oder auf schnelles Umschaltspiel (wie etwa unter Udo Klug in den 70ern) ausrichtete. Wichtig für den Darmstädter ist, dass aufrichtig gekämpft wird. Ohne diese DNA, die wir vor lauter Gedanken an eine Melange aus Demut und zwanghaften Versuchen, im Fußball aufzusteigen, ohne passende Strukturen dazu bilden zu wollen, fast vergessen hatten, hätten wir die schwerste Krise des Vereins, 2008 erfolgreich aus einem laufenden Insolvenzverfahren heraus zu kommen, nie geschafft. Gut, dass es Mitglieder gab, die sich dieser DNA bewusst waren und die anderen daran erinnern konnten.

Tradition beginnt nicht erst mit dem Wunder von Bielefeld

Man stelle sich vor, wie es ohne diesen Erfolg heute am Böllenfalltor aussehen würde. War die Rücknahme des Insolvenzverfahrens (das vorher und nachher noch kein einziger Verein in Deutschland geschafft hat!) nicht die (nächste) Geburtsstunde im bildlichen Sinne für den jetzigen im bezahlten Fußball etablierten Verein mit 9000 statt 900 Mitgliedern wie vor 2008? Nur diese beschriebenen Werte der DNA stellen die Prüfkriterien dar, wenn wir etwas untertiteln wollen mit „Aus Tradition anders“.

Maria und Gerhard Schmidt

Und wichtig ist, dass wir uns weiterhin zu unserer Tradition bekennen, die eben nicht erst mit dem viel beschriebenen „Wunder von Bielefeld“ begann. Nein, sie begann mit Alice, den Engländern in Darmstadt und den Ensgrabers. Und sie lebt fort in den Nachfahren der Ensgrabers wie in der 93 Jahre alten Maria Schmidt und ihrem Sohn Gerhard – und in uns allen.

(Den ersten Teil unserer Serie über die DNA des SV Darmstadt 98 gibt es hier, den zweiten Teil hier)

Bildquellen

  • Maria und Gerhard Schmitt_eigenes Bild: Quelle: Vereinsarchiv SV Darmstadt 98
  • deoxyribonucleic-acid-3171255_1920: Reimund Bertrams/Pixabay
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