Michael Köllner förderte einst als Trainer beim TSV 1860 München den aktuellen Neuzugang Leon Klassen. Im Lilienblog-Interview spricht der 55-Jährige unter anderem über seinen ersten Eindruck von Klassen, die schwierige Zeit bei 1860 – und warum er ihm damals zum Absprung riet. Köllner ist bekannt als Förderer junger Talente – einer, der klare Worte findet, den Charakter hinter dem Spieler sieht und Karrieren ins Rollen bringt. Der 55-Jährige war DFB-Nachwuchskoordinator, führte den 1. FC Nürnberg 2018 zurück in die Bundesliga und prägte später den TSV 1860 München, wo er 2020 den Toto-Pokal holte und 2021 zum „Trainer der Saison“ der 3. Liga gewählt wurde. Zuletzt trainierte er den FC Ingolstadt.
Michael, du hast Leon in seiner frühen Karrierephase kennengelernt, als er gerade seine ersten Schritte im Profifußball machte. Was war dein erster Eindruck von Leon damals bei 1860?
Gerade vor zwei Wochen habe ich mit Leon wieder Kontakt gehabt, habe ihm wie jedes Jahr zum Geburtstag gratuliert. Da war er voller Hoffnung, dass es mit Wechsel nach Deutschland klappt. Als ich damals übernommen habe, hat er in einem 4-3-3 den offensiven Linksaußen gespielt. Er strahlte damals aber zu wenig Torgefahr aus, hatte zu wenig kreative Möglichkeiten. Wir haben dann auf 5er Kette-umgestellt, da hat er sich sehr wohlgefühlt auf der Bahn außen, weil er als Schienenspieler mehr Raum hatte. Damals hatte Leon aber unter Stress massiv Probleme, gerade wenn es enge Spiele waren. Er musste erst einmal mit München, der Stadt, zurechtkommen. Das war für ihn als ruhigen, introvertierten Jungen eine große Herausforderung. Und er hatte im Team einen schweren Stand gehabt.
War das damals ein generelles Problem im Team – oder war Leon da besonders betroffen? (Anmerkung der Redaktion: Es gab Berichte über einen Aufzug-Streich älterer Spieler, bei dem Leon Klassen festgebunden und auf- und abgefahren wurde.)
Die Alten haben die Jungen extrem gemobbt. Dass sich da junge Spieler wie Leon überhaupt da noch entwickeln können, das war eine Herkulesaufgabe für mich auch als Trainer. Da hat Leon schon extrem drunter gelitten. Da waren Szenen in der Kabine – auch gewalttätige – die kann man eigentlich gar nicht erzählen. Das war brutal. Da habe ich ihm auch zu einem Vereinswechsel geraten. Da haben wir dann auch gemeinsam versucht, etwas hinzubringen. Ich war selbst bei Austria Wien im Gespräch und habe ihm gesagt, dass die österreichische Liga ideal für seine Entwicklung wäre. Es geht nicht bei jedem Spiel gefühlt ums Leben, alles ist dort etwas ruhiger, dazu die österreichische Mentalität.
Hat dich seine Entwicklung überrascht – oder war das für dich absehbar?
Ja, wie es halt oft so ist, Leon hat bei der WSG Tirol dann fast alle Spiele gemacht. Aber auch in Österreich wird auf Transfererlöse geachtet für junge Spieler. Und dann kann das Angebot aus Moskau. Mit seinen russischen Wurzeln war klar, dass sein Weg nach Russland führen könnte, da die Vereine nach russischen Spielern im Ausland fahndeten, auch um die dortigen Anforderungen nach einem gewissen Prozentsatz an jungen Spielern im Kader erfüllen zu können. Er hat einen sehr guten Vertrag bekommen, und konnte damit auch seine Familie in Deutschland unterstützen. Aber leider hat Leon kaum gespielt, wie er mir mal im Urlaub in der Türkei erzählte. Dann kam der Ukraine-Krieg kam und damit die Probleme.
Hat er sich da bei dir gemeldet – oder hast du das nur aus der Ferne mitbekommen?
Wir haben telefoniert. Leon konnte durch den Krieg nicht mehr heimreisen, beziehungsweise nur mit x-maligem Umsteigen und Strapazen und konnte die Eltern wegen dieser Reisebeschränkung kaum besuchen. Und sie ihn auch nicht. Das war schon schwierig.
Leon wechselte dann zur Saison 2024/25 zum dänischen Erstligisten Lyngby BK. Wie hast du dort seine Entwicklung wahrgenommen?
Er hat eine gute Saison dort gespielt. Skandinavien war für ihn wie für viele andere Spieler noch mal ein Karriere-Booster. Das habe ich schon oft erlebt. Gerade mit seinem Profil, als linker Außenverteidiger, mit gewissem Tempo, einer fußballerischen Klasse, das findest du kaum. Man merkt bei Leon auch seine offensive Denke, dass er ursprünglich von der Stürmerposition, als Linksaußen, kommt, das hebt ihn von manchem Außenverteidiger ab, der nur das Verteidigen gelernt hat. Ich freue mich sehr für ihn. Darmstadt – das ist eine tolle Station für ihn.
Wie würdest du Leon beschreiben, wenn du ihn als Person beschreibst – abseits des Spielfelds?
Er war schon immer ein sehr Ruhiger. Aber Leon war mit Stefan Reuters Sohn im Türkei-Urlaub – immer im gleichen Hotel wie ich. Da konnte ich sehen, wenn Leon mal ein bisschen lockerer ist, hat er Witz und Humor, er ist auch ein lustiger Bursche. Als junger Spieler hat er sich noch nicht getraut, auch mal einen Witz zu machen. Aber da habe ich schon gemerkt, wenn Leon mal auftaut, dann kann es für ihn auch eine Befreiung sein. Und genau das ist in den letzten Jahren passiert.
Über den Autor: Nick Golüke
Nick Golüke ist Journalist, Film-Produzent und langjähriger Begleiter des SV Darmstadt 98. Aufgewachsen in unmittelbarer Nähe des Böllenfalltors, verbindet ihn seit über vier Jahrzehnten eine enge Bindung zu den Lilien. Er arbeitete viele Jahre als Sportreporter für die ARD, unter anderem als FC-Bayern-Reporter, und ist heute Geschäftsführer der Produktionsfirma NGLOW FILM, die weltweite Dokumentationen für ARD, ZDF, arte und internationale Plattformen realisiert. Immer wieder engagiert er sich aktiv für den Verein – unter anderem 2008 beim Zustandekommen des Retterspiels gegen den FC Bayern. Nick ist regelmäßiger Gast in der Heinerstube, dem Videopodcast des Lilienblogs, und bringt dort seine Perspektive als Kommunikationsprofi und Vereinskenner ein.
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Bildquellen
- Klassen-20-1: Handout SV Darmstadt 98
Danke für diese Hintergrundinfos. Dann hat Leon doch schon einige schwierige Phasen durchlebt, das ist für die persönliche Entwicklung prägend. Ich bin gespannt, wie er sich bei den Lilien entwickeln wird.