Ist Fußball nicht zuletzt erfunden worden, damit sich Menschen mal so richtig schön aufregen können? So auch Lilienblog-Autor Martin Hohmann. Deshalb fällt seine heutige Glosse „Böllen. Fallen. Tore.“ etwas galliger aus.
Könnte sein, dass das jetzt ein bisschen Gernot-Hassknecht-mäßig wird. Ihr wisst ja, der nette ältere Herr, der in der „Heute-Show“ meist drei zuckersüße Sätze in die Kamera säuselt, bevor ihm wegen eines Trigger-Wortes der Kragen platzt. Dies ist jetzt der dritte Satz, und hier kommt das Trigger-Wort:
„Traditionsverein“.
JA GEHT’S NOCH?!?! Hört mir doch auf mit diesem weinerlichen Begriff aus der Fußball-Mottenkiste, der immer dann hervorgekramt wird, wenn mal wieder Welpenschutz für so ein künstlich am Leben erhaltenes Kicker-Konstrukt beantragt wird, weil es droht, endgültig vor die Hunde zu gehen.
Tradition? Hä?
Was soll denn das überhaupt sein, ein „Traditionsverein“? Muss der noch vor der vorletzten Jahrhundertwende gegründet worden sein? Oder reicht’s auch noch bis vor dem Ersten Weltkrieg? Oder vor dem Zweiten? In allen drei Fällen könnte sich ein gewisser Verein aus Köln, dessen Anhänger sich ganz besonders was auf ihren Geißbock-Club einbilden, seinen „Traditionsverein“ sonst wohin schieben.
Oder muss ein „Traditionsverein“ ein ganz besonderes Malocher-Image pflegen? Oder muss er 1963 Gründungsmitglieder der Fußball-Bundesliga gewesen sein? Oder muss er mindestens seit 80 Jahren vor der gleichen wackeligen Holztribüne spielen. Oder zeichnet es einen „Traditionsverein“ vielleicht aus, dass er mindestens fünf Mal in seiner Geschichte von zwielichtigen lokalen Autohändlern, Pizzabäckern, Puffbesitzern oder am besten gleich vom Steuerzahler „gerettet“ werden musste? Oder ist das einfach ein Verein, der „ganz stark zur lokalen Identität beiträgt“, seit jeher Anlaufstelle für Witwen und Waisen, Hoffnungsträger für Unterprivilegierte oder Underdog nach dem Motto „Wir gegen die“ war?
Also, raus mit der Sprache: Was ist ein „Traditionsverein“?
Versoffen, verprasst, verschoben.
Kackendreist ist ja nicht zuletzt, wie die Jünger sogenannter „Traditionsvereine“ – oder am besten gleich des guten alten „Traditions-Fußballs“ überhaupt – immer wieder mit wahlweise tränenerstickter oder hasserfüllter Stimme und ganz großen Äuglein Gerechtigkeit für ihren ach so schutzbedürftigen Laden einfordern. Wieso denn das? Was denn für ’ne Gerechtigkeit? Wer hat sich denn meist über Jahrzehnte hinweg soweit ins Abseits gekickt, dass es den bösen „neureichen“ Vereinen jetzt leicht fällt, am großen Rad zu drehen? Das muss man doch mal fragen dürfen: Was habt ihr, liebe „Traditionsvereine“, denn gemacht, mit eueren 50, 80, 125 oder im Falle München 165 Jahren Vorsprung? Nüscht habt ihr draus gemacht! Wenn mal Kohle da war, versoffen, verprasst, verschoben, verbrannt – gibt ja ein paar prominente „Traditionsvereine“, die diese Tradition der planlosen Verschwendung noch munter bis zum heutigen Tag weitertreiben.
Die bösen Investoren
Nee, is klar: Die bösen Investoren sind schuld. Die herzlosen, die geldgeilen, die Heuschrecken, die uns „unseren“ guten alten Fußball mit all seinen „Traditionen“ kaputtmachen, weil sie keine Seele haben, kein Gefühl für das Schöne, Wahre, Gute, keinen Sinn für Emotion und Drama.
Mal unter uns: Die haben einen sehr guten Sinn dafür! Genau deshalb finanzieren sie das Gekicke doch. Weil’s nämlich ein 1a-Unterhaltungsprodukt ist, mit dem sich tatsächlich auch Geld verdienen lässt – und wenn nicht über das „Spiel“ selbst, dann über Sekundäreffekte wie Imagebildung oder Steuerersparnis. Tja, da gucken die „Traditionalisten“ dumm aus ihrem Trikot: Darauf, dass man sowas wie Fußball auch strategisch und mit Blick auf langfristigen Erfolg betreiben kann, muss man ja erstmal kommen! Das hat der rammdösige Blick in die Pils-Kugel nicht verraten.
Ist aber doch auch schön, wenn das eigene Versagen (aus Tradition) allwöchentlich überspielt werden kann, indem man sein Mütchen am „Werksverein“, am „Brause-Club“, am „Scheiß FC Bayern“ kühlt. Bigottes Pack! Da zerreißt sich der Volksmund das Maul über Michael Kühne, der „seinem“ HSV immer wieder mit ein paar Milliönchen unter die Arme greifen muss, damit das Elend im Volkspark überhaupt noch weiterlaufen kann.
Was aber der „Traditions-Fan“ heute „Investor“ schimpft, nannte er früher freundlicher „Gönner“, „Mäzen“ oder „Patriarch“. Schon vergessen: Klaus Steilmann (Wattenscheid 09), Michael A. Roth (1. FC Nürnberg), Günter Mast (Eintracht Braunschweig), „Schäng“ Löring (Fortuna Köln). Alles „Traditionsvereine“, alle ohne Investor nicht überlebensfähig. Und das sind nur wenige und aus der vergleichsweise noch jüngeren Zeit. (Wie das schon seit eh und je so läuft kann man nachlesen im sehr aufschlussreichen Wälzer „Samstags um halb vier – Die Geschichte der Fußballbundesliga“ von Nils Havemann.)
Die nützlichen Idioten
Und dann, liebe „Traditions-Fans“, gibt’s ja noch zwei ganz besondere Spielarten, ’nen Zombie am Leben zu erhalten: Beispiel eines großen Vereins aus der Pfalz, der unter einem langjährigen Ministerpräsidenten und einer gefügigen Kommune ewig lange Steuergelder verprassen durfte. Klar, ist halt, Obacht: „wichtig für die Region“. Besagter Verein hatte auch noch eine zweite Quelle, die er gnadenlos angezapft hat: den eigenen Anhang. Machen andere auch. Ich sag nur: „Fan-Anleihe“ (ist aktuell deutlich abgemildert als „genossenschaftliches Modell“ wieder groß in Mode). Es finden sich offensichtlich immer wieder ausreichend Pappenheimer, die sich so eine Anleihe kaufen. Das muss wahre Liebe sein, denn dass die angebotenen 5, 7 oder 8,75 Prozent jemals realisiert werden, das glaubt der Fan selbst nicht. Am Kapitalmarkt nennt man das Ramsch-Niveau.
Zurück zur Ausgangsfrage: Was zeichnet den „Traditionsverein“ aus, das ihn so hilfs- und schutzbedürftig macht – oder ihn überhaupt erstmal definiert? Genau: Nichts! Was ist also bezüglich seiner Rettung zu unternehmen? Ebenso: Nichts! Gibt doch kein gottgegebenes Recht, in der der 1. oder 2. Liga zu spielen. 3., 4. und 5. können ebenso schön sein. Viel schöner sogar: denn da, aufm Spochtplatz am Waldrand, hat doch der „Fußball-Traditionalist“ genau das, was er im seelenlosen Profifußball vermisst: Pöbel-Nähe zum Schiri, Bier für 2,50, Spielerfrauen, die am Waffeleisen stehen. Geil!
PS: Ist der SV Darmstadt 98 ein „Traditionsverein“? Ich fürchte, ja. Alle Indizien sprechen dafür: vor langer, langer Zeit gegründet, mehrmals am Abgrund gestanden, gerettet nicht zuletzt vom „Scheiß FC Bayern“ unter Wurstfabrikant Hoeneß und bis in die 2020er-Jahre in einem maroden (alternativ „altehrwürdigen“) Stadion aufgetreten und ein Vereinslied, dass so abgrundtief doof ist, dass es schon wieder einzigartig ist und zurecht Kult-Status besitzt. Aber wir geloben Besserung.
Euch gefällt der Lilienblog? Dann unterstützt unsere Arbeit hier (->) und fördert so die Medienvielfalt in Südhessen und rund um den SV Darmstadt 98.
Bildquellen
- BoellenFallenTore: DanyelDahlkamp