… ein Fußball wie er früher einmal war? Lilienblog-Autor Martin Hohmann schwelgte beim Spiel des SV Darmstadt 98 gegen Fürth in Erinnerungen. Leider nur zehn Minuten lang. Davor und danach war Fußball-Alltag mit allem, was gar nicht unbedingt dazugehört. Zeit, in der heutigen Glosse „Böllen. Fallen. Tore.“ die (Dugena-) Uhr zurückzudrehen.
Es fällt immer schwerer, sich dazu aufzuraffen, ans Bölle zu pilgern: das Alter, die Uhrzeit, die Temperatur – und ein vergnügungsfeindlicher Mix aus allen dreien. Fußballmafia DFL sag‘ ich da nur: OK, für den Pokaltermin gegen Schalke ist der DFB verantwortlich. Aber uns danach gleich drei 20:30 Uhr-Ligaspiele in Folge und zum Dessert noch eines um 18:30 aufzuhalsen. Und das im Oktober, November, Dezember. Geht’s noch? Kommt mir nicht mit „Zauber des Flutlichtspiels“. Es ist dunkel und es ist kalt! Und dann noch das ganze Gedöns rund ums Spiel …
Den Spielverlauf hören.
Mit dem Anpfiff aber war all das vergessen. Da kamen selige Erinnerungen hoch. Und die kamen so: Die Ultras beider Clubs hatten Stillschweigen vereinbart. Zur Strafe für irgendwelche bösen Komplotte, die Verbände und Politik gegen sie ausheckten, aushecken oder noch aushecken werden. Irgendwas ist ja immer.
Auf jeden Fall: zehn Minuten lang kein „Support“ – zumindest nicht aus S, X und Y. Stattdessen: zehn Minuten echte Stimmung. Und zwar im Sinne von „Reaktion auf den Spielverlauf“: Grundgrummeln, zwischenzeitliches Aufbrausen, Abschwellen, Rufe, Fastjubel, Kollektivstöhnen … Was soll ich sagen: Schön war’s! Zehn Minuten zum Genießen für Fußball-Ästheten und ein wehmütiges Zurückdenken an die Zeit, als der Fußball noch „mein“ Fußball war, im größeren Rahmen also „unser Fußball“ – und nicht das, was die „Fankultur“ für „ihren“ Fußball hält und ständig lauthals einklagt. Eine „Tradition“, die nicht älter als 12, 15 Jahre alt ist, jedoch beansprucht, DIE Tradition schlechthin zu verkörpern. Nach zehn Minuten dann wieder mehr vom bunten Allerlei inkl. Pyro, Gesängesuppe und Sichtbehinderung durch Schwenkfahnen.
Her mit dem offiziellen „Retro-Spieltag“!
Dennoch: Die zehn Minuten haben den Glossisten getriggert. „Was wäre, wenn …“? Ja was? Wenn wir mal das ganze Brimborium weglassen würden, das sich seit der Zeit des seligen Wiederaufstiegs in höhere Fußballregionen um den Spieltag, ja um den ganzen Verein, gelagert hat wie Dunsthauben-Fett im Dunsthauben-Fett-Filter, wie Rindenschichten um den einst jungen Baumtrieb, wie Cholesterin-Klumpen in den Blutbahnen? Was wäre, wenn es zumindest einmal pro Saison einen „Retro-Spieltag“ gäbe? Ein Spieltag, wie er früher einmal war. Für Fußball, wie er früher einmal war? Oder ist das gefährlich? Könnte ja wer auf den Geschmack kommen …
Ist klar, das Bölle ist ein anderes als damals. Aber immerhin liegt es noch dort, wo es immer schon lag. Und immerhin ist es nicht bedeutend größer geworden als „damals“ – eher sogar kleiner, vielleicht gar ein bisschen heimeliger. Da ließe sich ein „Retro-Spieltag“ doch wunderbar feiern. Denn vieles, was dazugehörte, ließe sich mit kleinem Aufwand realisieren. Überhaupt: Kleiner Aufwand wäre sogar die wichtigste Voraussetzung!
Schluss mit der Ranschmeiße!
Vor allem möglichst überhaupt kein Aufwand, um mich als Fan „abzuholen“, „zu beteiligen“, zu „unterhalten“. Unterhalten soll mich ein gutes Spiel, und beteiligen werde ich mich dann schon, darauf könnt ihr einen lassen. Lasst mich einfach kommen, ’ne Wurst und ein Bier kaufen, meinen Platz einnehmen und ein Fußballspiel schauen. Zwingt mich nicht, mehr als eine „Vereinshymne“ mitsingen zu müssen (es kann nämlich nur eine geben). Da müssten Decubitus dann halt mal für ein Spiel dran glauben, aber das ist doch wohl zu verschmerzen. Kapiert ja eh scheinbar keiner, dass es nicht „Allez le Bleu“ (also Singular „Auf gehts Blaues!“), sondern „Allez les Bleus“ (also Plural „Auf geht’s Ihr Blauen!“) heißt. Na ja, „Die Schuh’ aus Paris, aus Darmstadt die Fies“, sag‘ ich da nur. Und lasst’s mit den Video-Screens mal gut sein und damit, dass jedes umgetretene Eckfähnchen von irgendwem „präsentiert“ wird, oder diese gefühlsduseligen Fangrüße. Früher wurde „Der Ball des heutigen Spiels gestiftet von“ und es gab ein bisschen vom Stadionsprecher abgelesene Werbung über die Lautsprecher. Und dann war Anpfiff.
Ja, ich weiß, Opa erzählt wieder vom Krieg. Aber träumt doch mal mit: Draußen wird man am „Retro-Spieltag“ weder von Losverkäufern noch von Choreo-Spendensammlern im Sinn von „Haste mal ne Mark“ angesprochen – zumal es ja auch keine Choreo gäbe und zumal beim Social Sponsoring so langsam auch die guten Zwecke auszugehen scheinen. Oder täuscht der Eindruck, dass da manche Initiativen schon zum wiederholten Mal dran waren? Auch gäbe es nicht die ewig gleiche Talkrunde vor dem Anpfiff, und während der Halbzeitpause passiert einfach mal: Nichts! Kein Kastenkick, kein Werbeclick, kein Gruppenf***. Nur Bier wegbringen und neues holen.
Und es gäbe nicht die eine Tribüne, die die Stimmung diktiert, sondern eine heterogene, spielverlaufsbezogene, ständig wechselnde Kulisse. Dann gibt’s vielleicht keine „Gesänge“, aber mit Sicherheit jede Menge Geräusche, wie sie sich spontan ergeben, wenn einer einen Zweikampf verliert, ’ne geile Grätsche spielt oder eine 100%ige versemmelt – und knapp 18.000 ihm dabei zuschauen. Vielleicht gäb’s dann sogar wieder die eine oder andere Kutte statt Schwarzen Block in North Face.
Wäre das nicht was? Sollte man das nicht mal probieren?
Aus Tradition anders?
Ja, das sollte man, das sollten wir. Das wäre mutig und das würde die Lilien zumindest ein klein wenig abheben und herausstechen lassen aus dem künstlich aufgeblasenen Liga-Allerlei? Machen wir uns nichts vor: Diese breiige Melange aus Ranschmeißerei, sozialem Engagement, gesellschaftlicher Verantwortung, „Fankultur“, aus Denkmaleinweihung und Weihnachtssingen usw. usw. verkörpern die Lilien keinen Deut anders und auch nicht glaubhafter als jeder andere Verein in den Fußball-Oberhäusern. Klar ist all das ehrenwert und klar sind all das prinzipiell schöne Ideen, um die Plattform zu nutzen, die ein Zweitligaverein nun mal darstellt. Aber: Ist das in irgendeiner Form „Darmstadts very own“? Ist das noch Fußball? Komm, geh fott …!
Also bitte: EIN EINZIGER SPIELTAG mit ein bisschen weniger von allem! Fußball so pur, wie er sich heute bei einem Zweitligaspiel machen lässt. Keine Ablenkung, kein Drumherum. Nur 90 Minuten auf dem Rasen.
Und danach können wir wieder fröhlich über Stadionausbau, die Steigerung von Marketingeinnahmen, Vierer- vs. Dreierkette, Trikotdesigns, Flutlichtmasten-Gestaltung, Tribünen-Politik und darüber diskutieren, was denn der echte, wahre und ewige Kern unser aller Fußball-Faszination ist.
Denn dann hätten wir uns vielleicht daran erinnert, worüber wir eigentlich sprechen.
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Bildquellen
- BoellenFallenTore: DanyelDahlkamp
